AUSZUG ESSAY
Bilderstrom.
Das Imaginarium des Támás Bakos
erschienen in: Famler, Walter, Richard Öhner und Anna Bakos (Hg.): Bakos Tamás. Exiled on Sidestreets, Wien: Sonderzahlverlag 2016, S. 44 - 47
Die Welt ist ein Gefängnis. Um sie sich vom Leibe zu halten, gibt es kulturindustrielle
Erzeugnisse, metaphysische Ausflüchte und das, was man als Entfremdungsprozess
durch Lohnarbeit bezeichnen kann. Davon, wie man im draußen ohne diese
Illusionen (über-)lebt, handelt das Werk des ungarischen Künstlers Támás Bakos.
Seine Bilder erzählen von einer Wirklichkeit, in der man es sich nicht länger
einrichten kann. Bakos, der selbst dreizehn Jahre lang obdachlos war, hat sie
alle auf schwarzem Untergrund gebannt: Passant/innen und Paare, Menschen, Tiere
und andere Fabelwesen, flüchtig festgehalten und im Vorübergehen fixiert,
dazwischen Affenköpfe und die Parodien bürgerlicher Damen, die Haltung zur Pose
verkommen, der Blick geisterhaft entrückt, ein Grün im Gesicht, das seit Henri
de Toulouse-Lautrec auf das Übellaunige einer sozialen Klasse schließen lässt,
die am Komfort ihres selbstinduzierten Ennui erstickt.
Es gibt nicht viel, das klare Umrisse hat, in diesem Gewirr
aus Linien und Licht, inmitten dieser Ansammlung schemenhafter Eindrücke einer Außenwelt
im Innenraum des künstlerischen Imaginariums. Nur die im Werk von Támás Bakos
immer wiederkehrende Figur Lenins hat mitten im Durcheinander die Fassung nicht
verloren. Mit den Portraits des Revolutionärs wird symbolisch alljener Utopien gedacht,
die innerhalb einer Geschichte politischer Zäsuren uneingelöst geblieben sind.
Eine davon war das kurzatmige Projekt der ungarischen Räterepublik im Jahr
1919. Vielleicht wäre den Bildern von Támás Bakos unter der Ägide von Arbeiter-
und Soldatenräten mehr Aufmerksamkeit zuteil geworden als in Zeiten eines
zügellosen Kapitalismus. Für den schnellen Strich, den Jean-Michel Basquiat in
den frühen 1980er Jahren an den Hausmauern von New York hinterließ, sind seine
Linien zu überlegt, für eine nachträgliche Einordnung in den Katalog der amerikanischen
Pop-Art nicht affirmativ genug. Woher also kommt Bakos' expressive
Geste, die Anklänge an die Wiener Moderne erweckt, woher dieser élan vital,
der zu spät am Ort von Klimt und Kokoschka angekommen ist?
Trotz seiner Vorliebe für Lenin-Potraits hat Támás Bakos auf politische Verein–nahmungsversuche
seiner Kunst bislang reserviert reagiert .
Eine Standortbestimmung seines nicht bloß in metaphysischer Hinsicht obdachlos
gebliebenen Oeuvres kann sich folglich nicht darin erschöpfen, im Künstler den
Vorboten einer erneuten Politisierung der Kunst
zu sehen. Das Medium Bild, das auch jenes von Támás Bakos ist, verhält sich im
Hinblick auf Versuche seiner denotativen Festlegbarkeit ohnedies ambivalent. Es
operiert mit Übergängen und Ambiguitäten, schwankt und schwindelt, tut sich
schwer mit den Evidenzen des Augenscheins und der Logik sprachlicher
Prädikationen. Was also wird zu Papier gebracht, wenn Támás Bakos malt? Was ist
es, das der Künstler lakonisch als Ausdruck meiner Lebenserfahrungen
bezeichnet hat?
Eng verwandt mit möglichen Antworten auf diese Frage ist jene danach,
wie die Bilder in die Köpfe kamen. Seit Anbruch des Zeitalters der reinen
Vernunft hat ihre Beantwortung Generationen von Philosoph/innen beschäftigt. Auch
den bildlichen Ausdrucksformen von Támás Bakos liegen Vorgänge des Erinnerns
zugrunde, die im Gegensatz zu den Bildern, die unwillkürlich im Schlaf
generiert werden, ein bewusstes Wieder-Erkennen von Etwas voraussetzen. Dieses Etwas
ist nicht einfach nur imaginativ gegeben, sondern im Anschluss an Kants
Bestimmung der Erinnerung in Abgrenzung vom Bereich der prokreativen, der
Phantasie zugehörigen Einbildungskraft Produkt einer reproduktive[n]
Einbildungskraft .
Auf dieses Vermögen führte Kant die Fähigkeit zur nachträglichen Imagination
von Objekten zurück, die in der Vergangenheit als eine der Beobachtung
zugängliche Szene oder als greifbares Objekt existiert haben.
Im Gegensatz zu den sozial kontingenten
Repräsentationen im Bereich von Phantasietätigkeit, Traum und zwanglosem
Spintisieren kennt die reproduktive Einbildungskraft kein beliebig
vorstellbares Bild. Im Zuge der Gedächtnistheorien der Jahrhundertwende wurde das
Kantsche Modell jedoch erneut aufgegriffen und in Beziehung zur lebensphilosophischen
Theorien gesetzt. In Materie und Gedächtnis hat Henri Bergson Erinnerungen als
Bilder bestimmt. Darin sah er eine Art von Existenz, die mehr ist
als das, was der Idealist Vorstellung nennt und weniger als das, was für den Realisten ein Ding ist –
sie liege irgendwo zwischen dem Ding und der Vorstellung davon.
Fortan heißt erinnern, sich einem durch reproduktive Einbildungskräfte nicht
länger begrenzten Bilderstrom auszusetzen, der uns mitreisst, sobald wir in der
Zeit zurücksehen. Jene in der Literatur erst später aufkommende Technik des Bewusstseinsstroms
wird damit antizipiert, die auch Támás Bakos Bildern zugrunde liegt. Dabei
triumphiert das Imaginäre über die Gesetzmäßigkeiten des Realitätsprinzips.
Eine vormals starr in Begriffen gefasste Welt nimmt erneut Form und Farbe an. [...]
Es ist viel eher die
allegorische denn die materiell fassbare Realität, die den Bildern von Támás
Bakos Modell gestanden ist. Wer Allegorien einer Endzeit denken
kann, bleibt in einer Gesellschaft wie dieser jedoch ein Randgänger. Támás
Bakos Werk und Biografie sind vom dazugehörigen Pariabewusstsein durchzogen. Der
Preis dafür ist bekannt. Er besteht darin, zum Ahasver zu werden. Nur diesem
war es bislang möglich, jenen imaginären Augenblick festzuhalten, der zugleich
in und außerhalb der Gegenwart liegt. Siegfried Kracauer zufolge gibt es
niemand anderen als Ahsaver, der im Augenblick kurz vor seiner Selbstauflösung das
erste Mal imstande ist, auf seine Wanderungen durch die Zeiten
zurückzublicken.