erschienen in: Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder No. 171, S. 100 – 101
Neben dem Graphic Novel-Autor Art Spiegelman zählt auch der
NO!art-Begründer Boris Lurie zu einer Generation von Künstlern, die in den
ausgehenden Sechziger Jahren verstörende Bilder einer Gegenwart nach Auschwitz
entwarfen. In Luries Assemblagen, die aus Fotografien der Leichenberge von
Buchenwald und Bergen-Belsen, vermischt mit dem Trash der Werbewelt, bestehen,
finden sich oft Anspielungen auf menschliche Ausscheidungen. Roh und
unvermittelt tauchen sie immer wieder auf – als organisches Superzeichen, das
keine Sublimation zulässt. Mit der Geste des Verweilens beim Negativen, bei der
Scheiße der Geschichte und ihren Exkrementen, zeigt auch Spiegelman, dass Kunst
nicht erlösen kann. Im ersten Band seiner ursprünglich zweibändigen und unter
dem Titel "Die vollständige Maus" seit 2008 bei Fischer Taschenbuch
aufliegenden Graphic Novel kotzt Vater Wladek Geschichte aus, dem
amerikanischen Original nach muss dieser sie sogar aus sich herausbluten: „My
father bleeds history“ heißt es im Untertitel des 1986 bei Pantheon Books
erschienenen Erstlings.
Schwarz ist auch der Körpersaft,
mit dem die Heldinnen in Leela Cormans grafischem Roman Unterzakhn gleich
zu Beginn der Geschichte konfrontiert sind. Es ist eine ganz besondere Milch
der Frühe, die die Zwillingsschwestern Fanya und Esther im New York des Jahres
1909 kosten müssen. Auf den ersten Seiten wird Fanya Zeugin einer in einem
Hinterhof der Lower East Side durchgeführten Abtreibung mit tödlichem Ausgang.
„What is a Lady-doctor?“ (20) wird ihre Schwester sie, kurz vor dem
Einschlafen, fragen und Fanya den Namen einer Ärztin nennen, die von Frauen aus
dem Armenviertel oft gerufen wird. Und schon wieder taucht er auf, der schwarze
Fleck auf grauem Grund, in einer aus vier Bildern bestehenden
Imaginationssequenz, die ihrer Grenzenlosigkeit wegen keiner Panelumrandung
bedarf. Woher die Kinder kommen – aus dem „tuchus“, einem Wort, das im
Jiddischen Hintern heißt –, scheinen die Schwestern schon zu wissen; in welche
Körperöffnung man den Draht einführen muss, um sie zum Verschwinden zu bringen,
müssen sie noch lernen.
Durch ein schwarzes Blatt vom
vorangegangenen Geschehen abgetrennt, beginnt in Cormans sich durch mehrfache
Rückblenden auszeichnenden Chrono-Logik einer jüdischen Einwanderer-Familie
dreißig Seiten später das Jahr 1912. Das Leben der Schwestern, deren Eltern das
russisch regierte Polen aufgrund von antisemitisch motivierten Pogromen
verlassen mussten, verläuft in getrennten Bahnen. Während Fanya, anfänglicher
Widerstände ihres streng orthodoxen Umfelds zum Trotz – „she doesn’t need
goyish schooling“ (33) – von der Ärztin Bronia unterrichtet wird, hilft Esther
Mutter Minna beim Verkauf der „latest fashion from Paris“ (27) in der
Korsagenschneiderei Zilber. Heimlich erlernt sie die Kunst des Revue-Tanzes und
verdient damit auch gutes Geld. Vom Bett ins Penthaus gelangt Esther jedoch
erst durch die Heirat mit Mister Meyer, der sein „yiddische meydl“ (150) auf
der Bühne zu seiner Salomé macht. Fortan trägt sie ihre Haare im Stil von
Louise Brooks und entkommt doch nicht den Zwängen von Zeit und Milieu.
Fanya, die in der Zwischenzeit
von Bronia gelernt hat, wie man Familien plant und Frauen zur Abtreibung
verhilft, wird ihrer Schwester elf Jahre später vorwerfen, sich von Hades in
die Unterwelt entführt haben zu lassen. Mit ihrer Interpretation des Raubes der
Persephone endet auch der Metatext, der den Comic wie einen roten Faden
durchzieht. Wenig später stirbt Fanya während der Geburt ihres Kindes, das sie
nicht mit Vater Sal, sondern ihrer Schwester Esther großziehen hätte
wollen. Auch für sie kommt Bronias Hilfe zu spät. Fanya, die sich im Kampf für
das Recht auf Abtreibung für alle Frauen, und nicht bloß die verheirateten
unter ihnen, stark gemacht hatte und deshalb mit Bronia brechen musste,
verschwindet in einem schwarzen Loch auf grauem Grund – mitten beim
Leben-Machen.
In Unterzakhn packen die
Toten die Lebenden. Die dazugehörige Unterwelt entwirft Leela Corman mit viel
Witz und Liebe zum historischen Detail. Sie setzt dort an, wo Will Eisners
„Tenement Stories“ enden und schreibt mit formal ausgeklügelten Mitteln die
Geschichte jüdischer Working-Class-Familien aus Frauenperspektive fort. Obwohl Unterzakhn
voll von sexuell expliziten Darstellungen ist, zeigt Corman beispielsweise
nicht, wie Esther vergewaltigt wird; an dieser Stelle befindet sich ein
schwarzes Panel, das an das Blut aller Anfänge erinnert und weit über den
Bildrand hinausgeht. Die Autorin hat damit nicht nur die Emanzipationsversuche
zweier Schwestern aufgezeichnet, die sich aus dem Korsett überkommener
Traditionen nicht befreien können; sie skizziert auch Bilder aus dem
proletarischen Leben der ersten Einwanderergeneration in die USA. Nicht mit
Neuauflagen der „Jewish American Princess“ oder der „schejnen Shikse“ haben wir
es dabei zu tun; es sind die ,unteren Sachen’, die in Unterzakhn zuerst
zu Wort kommen. Auf Jiddisch, Deutsch und Slawisch – oder durch verstörend
starke Bilder, die sich nicht einfach sublimieren lassen.