Comic-Kolumne
Unsichtbarkeit als Privileg
erschienen in: Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder No. 174, S. 102
Ein großformatiges Bild, zersplittert in zahllose Einzelteile – so sieht eine Erinnerungssequenz
in Howard Cruses' 1995 erstmals bei Vertigo erschienener Graphic Novel Stuck
Rubber Baby aus. Sie zeigt Ausschnitte eines Geschehens, das zur entscheidenden
Wende im Leben des Protagonisten Toland Polk führen wird. "Wenn ich
zurückblicke, dann waren es gar nicht so viele Tote, die ich während meiner
Jugend im Süden gesehen habe", lässt Cruse seinen Erzähler auf der ersten Seite
seines Comicromans sagen; dass die dazugehörigen Bilder im Verlauf der
Erzählung immer wieder auftauchen, zeigt, das der von ihnen ausgehende Schrecken
noch nicht ganz gebannt ist.
Es ist das Jahr 1963, in das Toland Polk mit der ersten Rückblende in Stuck
Rubber Baby entführt. Wir befinden uns im Süden der USA, mitten in der fiktiven
Kleinstadt Clayfield. John F. Kennedy wurde noch nicht ermordet, der
Marsch auf Washington hat noch nicht stattgefunden. Rund um die 16th Street
Baptist Church formiert sich erstmals Widerstand gegen die bestehende Rassentrennung
und Toland Polk ist mit seiner Freundin, der Folk-Sängerin Ginger Raines, in
den ersten Reihen mit dabei. Unterstützt werden sie von Sammy Noon und dem
ebenso homosexuellen Pfarrersohn Les Pepper. Toland und seine Freund/innen wollen
nicht akzeptieren, dass die Gesetzgebung getrennte Räume für Weiße und
Schwarze, für Heterosexuelle und für Homosexuelle vorsieht und in vielen der vierundzwanzig
Kapitel des Buches scheint es diese auch nicht zu geben. Bald erfahren die
Leser/innen jedoch, warum auf das schrille Geräusch der Türglocke in einem der
Clubs der rasche Wechsel der Tanzpartner/innen folgt – und auch, dass es nicht allein
bei regelmäßigen Polizei-Razzien bleiben wird.
Mit dem Rhombus, dem Alleysax und dem Melody Motel hat Cruse Orte
einer queeren Gegenkultur entworfen, die auch Raum für Parodien bieten. Mit
gespielter Natürlichkeit imitiert dort etwa die schwarze Dragqueen Esmereldus die
weiße Doris Day. Neben den Grenzen zwischen den Geschlechtern verschwimmen bei
Cruse auch die zwischen Hautfarben. Die auffällig starken Schraffuren, die
seine Figuren so plastisch wirken lassen, markieren zumeist nur Dimensionen. Die
Hautfarbe einer Person wird hingegen durch schriftliche Hinzufügungen angedeutet
oder geht aus dem Kontext hervor – so auch im Zusammenhang mit dem späteren Mord
an Tolands Mitstreiter Sammy Noone. Mitten im Bild ist der Schriftzug "Nigger
Loving Queer" (S. 178) zu sehen und er ist an Toland, den Überlebenden, gerichtet.
Nachdem er, niedergeschlagen und am Boden liegend, wieder zu Bewusstsein kommt,
sieht er die Leiche seines Freundes an einem Ast baumeln. Als die Polizei den
rassistisch motivierten Mord als Selbstmord im Homosexuellenmilieu abtun will,
sieht Toland sich zum Coming-Out gezwungen. Kurz davor, Vater zu werden,
gesteht er wenig später auch seiner Freundin Ginger, dass er schwul ist. In
diesem Zusammenhang bezieht der Titel Stuck Rubber Baby sich auch auf
ein schuldig gebliebenes Kondom.
Stuck Rubber Baby ist ein Stück Comic-Geschichte, das über den Umweg der Fiktion
vom realen Geschehen der ausgehenden 1960er Jahre in Cruses' Geburtsort Birmingham
im Bundesstaat Alabama erzählt. Dort gründete Martin Luther King die Southern
Christian Leadership Conference, von dort gingen viele der gewaltlosen
Protestmärsche gegen die Rassentrennung aus. Cruses' Graphic Novel ist aber auch
eine Geschichte über die Berührungspunkte und wechselseitigen Bedingtheiten von
Bürgerrechts- und Schwulenbewegung – und sie ist eine Geschichte über die
Herausbildung einer Identität, die existenzielle Entscheidungen abverlangt.
Queer zu sein, heißt hier nicht, auf schwul-lesbische Parties zu gehen, sondern
für etwas einzustehen und sich zu engagieren. Dass dies auch den Kampf für die
Rechte Anderer miteinschließt, erkennt Toland Polk erst nach und nach. Gegen Ende
der Erzählung wird ihm bewusst, dass es anstelle seines Freundes Sammy auch ihn
hätte treffen können – und er entschließt sich dazu, seine Homosexualität offen zu
leben.
Anders etwa als in Incognegro: A Graphic Novel (2008) bleibt Cruses' Held kein
stummer Zeuge jener Lynchmorde, die nicht nur in den Südstaaten der 1930er Jahre an der
Tagesordnung standen. Während der Protagonist von Warren Pleece und Mat Johnson
seine helle Hautfarbe dazu nutzt, um unter dem Pseudonym Incognegro aus
sicherer Distanz zu beobachten, bezieht Toland Polk Stellung. Stellung zu
beziehen, heißt auch Farbe zu bekennen. In jenem Moment, in dem Toland Polk aus
seiner Unsichtbarkeit heraustritt, fügen sich die Teile eines vormals zersplitterten
Bildes. Es zeigt die geschändete Leiche von Sammy Noone. Dieses Bild soll die Leser/innen
keineswegs abstumpfen, sondern sie seiner Drastik wegen zur Aktion auffordern. Die
Comiczeichnerin Alison Bechdel hat Cruses 1996 im Hamburger Carlsen Verlag
auch unter dem Titel Am Rande des Himmels erschienene Graphic Novel deshalb als Manifest
der Hoffnung bezeichnet – "[d]er Hoffnung, dass die Dinge weitergehen, wenn
wir sie in die Hand nehmen."
Howard Cruse: Stuck Rubber Baby, Ludwigsburg: Cross Cult 2011